Der Große Bluff: Was Physios wirklich (nicht) lernen

Hand aufs Herz: Wie oft wirst du als Physio immer noch als besserer Masseur wahrgenommen? Patienten legen sich auf die Liege, und wir sollen mit ein paar Handgriffen „alles richten“. Genau das Bild ist tief in der Wahrnehmung unseres Berufs verankert – und das hat viele Ursachen. Es liegt nicht nur an gesellschaftlichen Vorstellungen. Historisch gesehen hat unser Beruf seine Wurzeln in der manuellen Therapie, und das prägt unser Image bis heute. Mediale Klischees verstärken diese Sichtweise, und viele Patienten kommen mit der Erwartung, schnelle (oft passive) Lösungen zu bekommen. Doch auch wir selbst tragen dazu bei – durch unsere Arbeitsweise und unser Selbstverständnis, die stark von unserer Ausbildung geprägt sind.
Denk mal an dein Staatsexamen zurück: Wie viele Stunden hast du damit verbracht, anatomische Strukturen auswendig zu lernen, jeden Handgriff zu perfektionieren und Mobilisationstechniken bis ins Detail zu üben? Wie viel Schweiß ist in die präzise Vorbereitung der praktischen Prüfung geflossen? Und jetzt frag dich: Wie viel Zeit wurde im Vergleich für Themen wie Screening, Trainingswissenschaft, Schmerzphysiologie oder Clinical Reasoning investiert? Wahrscheinlich deutlich weniger, oder?
Diese Fähigkeiten – Handgriffe, Mobilisationstechniken und fundierte Anatomiekenntnisse – sind ohne Frage wichtig und bilden eine Grundlage unserer Arbeit. Doch genau hier liegt das Problem: Während diese Inhalte den Großteil der Ausbildung dominieren, kommen viele andere Themen, die uns als Physios wirklich voranbringen könnten, viel zu kurz.
Doch diese Schieflage bleibt nicht auf die Ausbildung beschränkt: Auch nach der Ausbildung entscheiden sich viele, ihren Fokus weiter auf passive Behandlungen zu legen. Das ist oft eine bewusste Wahl – geprägt von der Nachfrage der Patienten, den Strukturen in der Praxis oder schlichtweg der Gewohnheit. Passiv zu bleiben scheint für einige der bequemere Weg – für Patienten und manchmal auch für uns.
Passive Maßnahmen haben ohne Frage ihre Berechtigung, aber sie bringen auch eine entscheidende Schwäche mit sich: Wir schaffen es oft nicht, Patienten aktiv in die Therapie einzubinden und sie in die Verantwortung für ihren eigenen Heilungsprozess zu ziehen. Das führt dazu, dass sie in einer passiven Rolle verharren und eine Abhängigkeit entwickeln, dass wir „es richten“. Für uns Therapeuten bedeutet das gleichzeitig, dass wir unsere Zeit und Energie nicht immer effizient nutzen. Gerade im Kontext des anhaltenden Fachkräftemangels wird deutlich, wie viel Potenzial hier verloren geht. Wie viele Therapieerfolge könnten wir nachhaltiger gestalten, wenn wir Patienten nicht nur behandeln, sondern sie aktiv dazu befähigen, selbst an ihrer Genesung zu arbeiten?
Jetzt stellt sich die Frage: Wie können wir diese Abhängigkeit durchbrechen und unseren Patienten helfen, langfristig selbstwirksam zu werden? Aus meiner Sicht führt kein Weg daran vorbei, sich kritisch mit den Wurzeln unserer Physiotherapie und der aktuellen Ausbildung auseinanderzusetzen. Denn nur wenn wir verstehen, was uns fehlt und wo unsere Schwächen liegen, können wir gezielt daran arbeiten, unsere Berufsgruppe weiterzuentwickeln.
Dabei ist mir wichtig zu betonen: Das Thema ist viel größer als nur die Ausbildung an sich. Doch gerade in diesem Blog möchte ich den Fokus auf die Ausbildung legen und dir zeigen, warum sie der Schlüssel sein kann, um die Physiotherapie voranzubringen. Es geht darum, kritisch zu hinterfragen, welche Denkweisen vermittelt werden, welche Inhalte fehlen und wie wir die Grundlage schaffen können, um uns als Therapeuten besser auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten.
Es geht um die Fragen, wie und warum wir besser werden sollten – für unsere Patienten, für unser Berufsbild und für eine moderne Physiotherapie.
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