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Fühlst du das wirklich – oder machst du dir was vor?

Dominik Neuberth

Folgende Situation: Du sitzt in einer Fortbildung, der Raum ist still, alle sind fokussiert, während der Dozent ein neues Assessment der Range of Motion erklärt. Ganz präzise beschreibt er, wie du greifen musst, wo sich die zu testende Struktur befindet, wie dein Griff sitzen sollte und in welche Richtung du mobilisieren musst. Es geht um Millimeterbewegungen, feine Nuancen in der Gelenkbeweglichkeit, die du erspüren sollst. Hypo- oder hypermobil? Wie schätzt du das ein? Die Antwort hängt davon ab, was deine Hände fühlen – oder zumindest fühlen sollten.
Du legst deine Hände auf, versuchst die Bewegungen nach Anleitung auszuführen, konzentrierst dich auf jede winzige Rückmeldung deiner Finger – und fühlst… nichts. Oder zumindest nicht das, was du fühlen solltest. In deinem Kopf kreisen die Gedanken: „Bin ich wirklich so ungeschickt? Wie soll ich das beurteilen, wenn ich kaum etwas merke?“ Du fragst einen Kollegen und sein Gesichtsausdruck sagt alles: Ihm geht es genauso. Doch nach ein paar Wiederholungen fühlst du plötzlich etwas. Vielleicht nicht ganz klar, aber genug, um es als „leicht eingeschränkt“ einzustufen. Später fragst du deine Kollegen erneut, wie sie die Mobilität eingeschätzt haben – und ihre Antworten unterscheiden sich vollkommen von deiner. Ein anderer sagt „eigentlich ganz normal“, ein dritter „hypermobil“. Was ist hier los?
Diese Erfahrung ist ein Klassiker in der Welt der Palpation – und zeigt ein spannendes, aber auch kontroverses Thema: Wie sicher können wir uns überhaupt sein, dass das, was wir glauben zu fühlen, tatsächlich so ist? Oder beeinflusst uns möglicherweise das, was wir erwarten zu fühlen? Die Frage „Fühlst du das wirklich – oder machst du dir was vor?“ öffnet die Tür zu einer größeren Debatte über Wahrnehmung, Suggestion und die objektive Zuverlässigkeit unserer Techniken. Denn wenn selbst unter erfahrenen Therapeuten die Meinungen und Wahrnehmungen stark variieren, was sagt das über die Verlässlichkeit unserer Befunde und Behandlungen aus?
In diesem Blog möchte ich genau diesen Fragen nachgehen: Wie viel beruht tatsächlich auf handwerklichem Können – und wie viel auf subjektiver Wahrnehmung oder sogar auf Einbildung? Welche Rolle spielen dabei unsere Erfahrungen und Erwartungen bei der Beurteilung? Und sollten wir uns vielleicht auch fragen, ob die Palpation wirklich eine zentrale Rolle in unserem Beruf einnehmen sollte – oder ob sie möglicherweise Dinge erfasst, die für den tatsächlichen Behandlungserfolg kaum relevant sind? Gleichzeitig stellt sich die Frage, welchen Wert und Nutzen das Palpieren dennoch haben könnte. Lass uns gemeinsam genauer hinschauen, was wir wirklich „fühlen“ können, wie zuverlässig diese Eindrücke sind und welche Bedeutung sie letztlich für unsere therapeutische Praxis haben.

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