Von S1 auf S3 – Praxistest Unspezifischer Nackenschmerz: Warum wir Physios jetzt aus unserer Komfortzone müssen!

Massage? Vielleicht manuelle Therapie? Unter Vorbehalt. Selbstmanagement und Aktivität? Unbedingt. Mit der kommenden S3-Leitlinie zu unspezifischen Nackenschmerzen ändert sich mehr als nur der Buchstabe im Titel – sie fordert ebenfalls ein neues Mindset in der Therapie. Warum das nicht das Ende, sondern der Anfang einer echten Weiterentwicklung sein kann, zeigt dieses Review.
Die neue Erhebung der Degam-S1-Leitlinie auf eine S3-Leitlinie “Nicht-spezifische Nackenschmerzen” richtet sich offiziell an Hausärzt*innen – und doch betrifft sie uns Physiotherapeut*innen vielleicht viel direkter, als wir zunächst glauben möchten [1]. Denn wenn wir die Ergebnisse des begleitenden Praxistests [2] aufmerksam lesen, ist klar: Zwischen den Zeilen spricht dieser Test auch zu uns. Er wirft Fragen auf und hält uns letztlich einen Spiegel vor. Und wer hätte an dieser Stelle mal gedacht dass eine Leitlinie für Hausärzte zu unspezifischen Nackenschmerzen uns Physiotherapeut*innen einmal so direkt den Spiegel vor unserer eigenen Nase halten könnte und wie gehen wir damit um?
Wie so oft gilt es, sich dabei ehrlich, konstruktiv reflektiert zu fragen, wie wir derzeit mit nicht-spezifischen Nackenschmerzen umgehen und wie wir es vielleicht besser machen könnten.
Was Hausärzt*innen im Rahmen der Studie beschreiben – der Spagat zwischen Leitlinienempfehlung und Patientenwunsch, die Schwierigkeit, evidenzbasiert zu handeln und gleichzeitig individuelle Bedürfnisse ernst zu nehmen [2] . Uns Physiotherapeut*innen kommt das vielleicht allzu bekannt vor.
Zwischen evidenzbasierter Empfehlung und alltäglicher Praxis klafft manchmal mehr als nur eine Lücke sondern oft viel mehr ein Therapiedelta. Patient*innen mit Nackenschmerzen kommen oft mit ganz genauen Erwartungen zu uns – nicht selten verbunden mit dem Wunsch nach “klassischer” Physiotherapie wie Massage, Manuelle Therapie oder sogar Akupunktur. Und wir? Wir kennen diese Wünsche, wir arbeiten mit ihnen, manchmal entgegen besserer Evidenz, manchmal auch aus Erfahrungsüberzeugung. Doch genau hier beginnt das Dilemma. Das klingt bekannt? Willkommen im Spannungsfeld zwischen interner und externer Evidenz. Die zukünftig neue S3-Leitlinie setzt auf ein strengeres evidenzbasiertes Vorgehen. Was wir teilweise als wirksam empfinden, ist dort mitunter nicht abgebildet oder wird sogar explizit nicht empfohlen. Der Praxistest zeigt: Viele Hausärzte wichen dennoch ab, oft auch wegen den Wünschen und Forderungen aus dem Sprechzimmer [2]. Ein Spiegelbild, eine 1 zu 1 Situation, wie wir es auch aus der Praxis kennen. Manche Hausärzte fordern daher: mehr Details zu bekannten Verfahren, differenzierte Einschätzung, weniger Schwarz-Weiß [2]. Wir könnten diesen Wunsch aufgreifen – und ihn leitliniengerecht mit unserer Expertise im Bereich der Bewegungstherapie, der edukativen Beratung und des aktiven Selbstmanagements bereichern.
Genau darin liegt auch unsere Chance: Wenn wir diese Leitlinie nicht nur lesen, sondern nutzen, könnten wir daraus nicht nur fachlich profitieren, sondern auch unser Selbstverständnis als Teil eines interdisziplinären Netzwerks weiterentwickeln und vielleicht sogar unsere Berufsprofression voranbringen. Es geht darum, als Gesundheitsberufe enger zusammenzurücken. Wenn wir als Physiotherapeut*innen Leitlinien wie diese ernst nehmen, stärken wir nicht nur die gemeinsame Argumentationsbasis mit den behandelnden Ärzt*innen – wie entlasten sie auch, indem wir evidenzbasiert und leitlinienkonform handeln. Und wir profitieren selbst, weil uns die Empfehlungen – subtil, aber eindeutig – eine Richtung zeigen.
Dieses Review will genau da ansetzen: mit physiotherapeutischer Brille auf den Praxistest und die kommende Leitlinie schauen – nicht um Kritik zu üben, sondern um daraus zu lernen. Und um uns als Profession daran zu erinnern, dass klinische Expertise auch bedeutet, sich regelmäßig selbst infrage zu stellen und von anderen zu lernen. Nicht als Schwäche, sondern als Stärke. Denn wenn wir ehrlich hinschauen und gemeinsam Verantwortung übernehmen, entsteht etwas, das über jede Fachgrenze hinausreicht: Vertrauen. Also lasst uns zusammen in den Spiegel schauen und daraus lernen, was wir besser machen könnten und wie wir mit der neuen Aufstufung der Leitlinie und dem Praxistest umgehen sollten.
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